Friedhelm Kraft/ Sept. 2020

„Evangelische Erinnerungskultur ist wesentlich Bildungsarbeit. Die Entwicklung und Pflege von historischen Orten als Lern-, Erinnerungs- und Gedenkorte ist eine wichtige Dimension eines evangelischen Verständnisses von Bildung. Gerade wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt, können Orte zu Zeugen werden, wenn sie durch pädagogische und theologische Angebote für neue Generationen erschlossen werden.“ (12)
„Erinnerungskultur ist unverzichtbarer Bestandteil evangelischer Bildungsarbeit in Akademien, Gemeinden und Schulen. Im Religionsunterricht und Konfirmandenunterricht sowie bei außerschulischem Lernen an kirchlichen Erinnerungsorten wird Geschichte begreifbar und vergegenwärtigt, um jungen Menschen in ihrem Leben Orientierung zu geben. So ist kirchliche Erinnerungsarbeit eine religionspädagogische Aufgabe.“ (21)

Aus: Handreichung „Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit in der EKBO“ (2016).

These 1:
Evangelische Erinnerungskultur als Bildungsarbeit nimmt Ergebnisse/Erkenntnisse der Geschichtsdidaktik und des historischen Lernens auf.

1. Wie entsteht Geschichtsbewusstsein bzw. historisches Denken? (Dam, 1-3)
Kinder entwickeln sehr früh ein Bewusstsein von Zeit, sie unterscheiden Vergangenes von Zukünftigen, sie erinnern Geschichten und Erlebnisse und freuen sich auf das Kommende unabhängig von unseren Begriff von Zeit als eine definierte Maßeinheit. „Historisches Lernen in der Schule strukturiert und vertieft diese Erfahrungen und dieses ungesteuerte Wissen.“ (Dam, 2).
Für die Entwicklung des historischen Lernens bei Kindern und Jugendlichen sind maßgeblich die entwicklungspsychologischen Stufentheorien rezipiert worden, bekannt ist Unterscheidung von Piagets von „konkreten“ und „formalen“ Operationen. Demzufolge ist historisches Denken per se „formal“ und entwickelt sich erst ab dem 11. Lebensjahr.
In der aktuellen Diskussion sind die Überlegungen von Heidrun Dierk von Bedeutung. Sie spricht sich gegen einen immer noch in Schulbüchern dominierenden chronologischen Kirchengeschichtsunterricht aus. Kirchenhistorisches Lernen sollte in der Grundschule vor Ort mit Regional- und Familiengeschichte anfangen, erst in der Sekundarstufe I können Schüler*innen ein Verständnis für verschiedene Geschichtsbilder – z.B. Luther-Bilder – erlangen. Wichtig ist der Hinweis, dass Geschichtsbewusstsein nicht von der Quantität des historischen Wissens abhängt.

2. Lassen sich Merkmale historischen Denkens beschreiben? (Dam, 4 – 7)
Auch wenn sich keine empirisch abgesicherten Modelle für die Entwicklung historischen Denkens aufzeigen lassen, können Merkmale historischen Denkens unterschieden werden. Nach Dam lassen sich drei Merkmale historischen Denkens wie folgt fassen.
a) Ein Wissen um das Geworden-Sein der Wirklichkeit (u.a. Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Phantasie, das Ringen um „zuverlässiges Wissen“, Perspektivgebundenheit geschichtlicher Rekonstruktionen).
b) Ein Wissen um die Veränderbarkeit der Wirklichkeit (Unterscheidung zwischen statisch und veränderbar, Erinnerung als „gefährliche“ Erinnerung (J. B. Metz), Unterscheidung zwischen einer zyklischen und linearen Zeitauffassung)
c) Ein Wissen um die Zeitbedingtheit von Werturteilen (historisches Denken relativiert das Gegebene im Blick auf Vergangenes („damals dachte man so, heute …)“.

3. Exkurs: Kann die Dis/ability History eine diversitätsbewusste Bildungsarbeit, einen diversitätsbewussten Religionsunterricht unterstützen?
Die Dis/ability History widmet sich der Erforschung von Krankheit und Behinderung in der Vergangenheit. Es geht darum in historischer Perspektive „Behinderung“ als Bedeutungsphänomen in den Blick zu nehmen und neue Sichtweisen zu etablieren. „Menschen mit Behinderungen werden von der Dis/ability History zunehmen als Handelnde und als Subjekte der Geschichte betrachtet und nicht mehr nur als Behandelte untersucht.“ (Dirk, 3) „Sie ist somit keine Behindertengeschichte aus der Perspektive der Normalität, sondern schärft den Blick dafür, dass Körper historisch und kulturell variabel sind, dass die Erwartungen an Körper im Sinne von Leistungsfähigkeit und Funktionalität je nach historischen Kontext differieren können.“ (Dirk, 3)
Dirk plädiert dafür, dass „Dis/ability“ als eine „Kategorie der Reflexion kirchengeschichtlicher Themen“ eingeführt wird, dass gefragt wird, „welche Funktion dis/ability in Quellentexten, Erzählungen, bildlichen Quellen etc. spielt“, immer im Wechsel mit der Frage, was „ability“ bedeutet und welche Normen, Werthaltungen vorausgesetzt werden. Für eine diversitätsbewusste Bildung, für den Umgang mit Vielfalt in einer pluralen Gesellschaft kann die „Dis/ability“-Kategorie für die Infragestellung von Normalitätsvorstellung und damit für eine kritische Reflexion alltagsweltlicher Normen und Werthaltungen einen wesentlichen Beitrag leisten.

These 2:
Religiöses Lernen und Erinnerungslernen stehen in einem wechselseitigen Verhältnis.

1. Welche Stellenwert/ Bedeutung hat „Erinnerung“ als theologische Grundkategorie? (Boschki, 1-2).
Judentum und Christentum sind typische Erinnerungsreligionen. Religiöse Rituale sind Vergegenwärtigungen des Vergangenen. Kirche ist wesentlich eine Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft. Religiöses Lernen erfolgt daher als Erinnerung an biblische Geschichten und Erzählungen von Menschen, die im Sinne ihrer Beziehung zu Gott Welt und Wirklichkeit im Horizont dieser Beziehung deuteten. Damit ist „Erinnerung“ im theologischen Verständnis eine religiöse Deutungskategorie, die sich von einer rein historiografischen Betrachtung von Geschichte unterscheidet.

2. Welche Bedeutung hat die Rede von einer „anamnetischen Kultur“ (J.B. Metz)? (Boschki, 3)?
Im Blick auf die religiöse und gesellschaftliche Pflicht zur Erinnerung hat J.B. Metz den Begriff einer „anamnetischen Kultur“ geprägt. Es geht um eine Kultur der Erinnerung, in der im Blick auf Auschwitz zu fragen bleibt, „wie ein Grauen, das sich der historischen Anschauung immer wieder zu entziehen droht, gleichwohl im Gedächtnis behalten werden kann.“ (Metz, zit. n. Boschki, 8). Vgl. die Hinweise zu den Gefahren der Objektivierung und Moralisierung). Boschki zeichnet „Konturen einer kritischen Erinnerungskultur“, die nur gelingen kann, „wenn sie nicht nur die Leiden der eigenen Gemeinschaft erinnert, sondern sich stets an den Leidenden und Toten ‚der Anderen‘ orientiert“ (1). Vgl. 7 Kennzeichen einer kritischen Kultur der Erinnerung: Boschki, 8.

3. Welche grundlegenden Kompetenzen hat Erinnerungslernen als Voraussetzung?
Der Rahmenlehrplan für den Evangelischen Religionsunterricht bestimmt als eine Zielsetzung des Unterrichts die „Pflege des kulturellen Gedächtnisses“ (Rahmenlehrplan, 6). Der Rahmenlehrplan bündelt die ausgewiesenen Kompetenzbereiche zu einer „religiösen Narrations- und Partizipationskompetenz“:
„Narrations- und Partizipationskompetenz wird verstanden als übergreifende Kernkompetenz des Evangelischen Religionsunterrichts. Schüler*innen können die eigene wie auch andere Religionen als Erzählzusammenhang begreifen. … Sie können sich am Diskurs über religiöse Fragen beteiligen, sowohl mit den Angehörigen verschiedener Religionen als auch mit denen, die sich zu keiner Religion bekennen.“ (Rahmenlehrplan, 8)
Narrationskompetenz wird sowohl im Geschichts- als auch im Religionsunterricht als grundlegende Kompetenz verstanden. Dafür wurden je verschiedene kompetenztheoretische Modelle entfaltet. Auch wenn die Ausformulierungen im Detail unterschiedlich sind, geht es immer um Kompetenzen bzw. Kompetenzbereiche, die mit den Stichworten wahrnehmen, deuten, urteilen, kommunizieren, gestalten, darstellen beschrieben werden.
Die Fähigkeit zu erzählen muss sich entwickeln und entfalten. Im Blick auf Narrationskompetenz lassen sich drei Ebenen unterscheiden: 1. Geschichten machen und erzählen können, 2.Geschichten hören und verstehen können und 3. Geschichten als Geschichten begreifen können. (vgl. Büttner u.a., 110)

4. Welche didaktischen Leitlinien kennzeichnen Erinnerungslernen? (Boschki, 4-5).
Mit den Stichworten Überwältigungsverbot, zweite Subjekthaftigkeit, Biografie- und Ortsorientierung, jüdisch-christliches Lernen, Antisemitismus-Bekämpfung und Menschenrechtslernen formuliert Boschki die wichtigsten Leitlinien des Erinnerungslernens.

These 3:
Erinnerungslernen knüpft an grundlegende Intentionen des biografischen Lernens an.

Für religiöse Lernprozesse ist das Lernen an Vorbildern unerlässlich, daher unterstützen Beispiele gelebten Glaubens die Suche nach Lebenssinn und individueller Identität.
Biografisches Lernen ermöglicht Differenzerfahrungen und damit die Stärkung und/ oder das Überdenken eigener Perspektiven angesichts der Pluralität der Lebensmuster und Handlungsoptionen. (Sajak u.a., 5)
Biografisches Lernen ermöglicht Lernräume, in denen Schüler*innen (ihre) Wahrnehmungen und Erfahrungen zum Beispiel im Horizont von Flucht und Migration reflektieren können. In diesem Sinne zielt biografisches Lernen auf eine Positionierung der Schüler*innen zu den unterrichtlich thematisierten Inhalten bzw. Fragestellungen.
Kinder-und Jugendbücher zum Thema Flucht geben Flüchtlingen ein Gesicht und ermöglichen Zugänge in unbekannte Welten in einem Wechselspiel von emotionaler Beteiligung und Distanzierung zum Erzählten. (Vgl. Mirjam Zimmermann, in: Theo-Web)
Zeitzeugenbefragungen als eine Methode biografischen Lernens ermöglichen einen unmittelbaren Zugang zu geschichtlichen Ereignissen. Sie fördern das eigenständige Engagement der Schüler*innen, machen aber einen kritischen Umgang mit der vermeintlich authentischen Quelle erforderlich.

These 4:
Erinnerungslernen überschreitet die Grenzen des Klassenraums in Form von Projekten und der Einbeziehung außerschulischer Lernorte.

Projektarbeit gehört zum festen Bestandteil schulischer Praxis. Für den Religionsunterricht als ein „freiwilliges“ Wahlfach hat Projektarbeit und forschendes Lernen eine besondere Bedeutung. Hier steht der/die Schüler/in im Mittelpunkt des Lernprozesses. Schüler*innen gestalten in hoher Eigenverantwortung ihren Lernprozess und präsentieren in unterschiedlichen Formaten ihre Ergebnisse.

Zwei Praxisbeispiele
1. Filmprojekt (ru-ekbo.de): Die Evangelische Kirche vor und nach der Wende: Vom Widerstand zur Anpassung? Alter: 13 | Schule: Willi-Graf-Gymnasium | Berlin
Durch das 30-jährige Mauerfalljubiläum erfuhren die Schüler*innen im Rahmen des Religionsunterrichts von der oppositionellen Rolle der Evangelischen Kirche in der DDR. Sie fragten sich, welche Erfahrungen Menschen, die in der kirchlichen Friedensbewegung aktiv waren, vor und nach dem Mauerfall gemacht haben. In dem 15-minütigen Film beziehen sie sich auf zwei sehr aktive Kirchengemeinden in Ost-Berlin: Die Gethsemanekirche und die Zionskirche. Die Schüler*innen untersuchten deren Wandel von der Zeit der Friedlichen Revolution bis hin zu Gegenwart. Hierfür führten sie Interviews mit Experten und Zeitzeugen. Der Film beginnt mit der Stellung der Kirche und ihrer Funktion als Schutzraum für oppositionelle Gruppen in der DDR. Im weiteren Verlauf wird die Entwicklung der Evangelischen Kirchen im Zuge des Mauerfalls betrachtet. Sie hatten ihre Funktion als Schutzraum verloren, leerten sich und vereinigten sich mit den konservativeren Evangelischen Kirchengemeinden Westdeutschlands. Die Gruppe schlägt auch einen Bogen zur Gegenwart, in der die Kirchen ihre politischen Aktivitäten, wie beispielweise das Kirchenasyl oder Mahnwachen für politisch Verfolgte, ausweiten. Zum Ende ihres Films reflektieren die Schüler*innen ihre Erkenntnisgewinne. Entstanden ist ein sehr schöner Film, der neben Interviewausschnitten die Legetechnik zur Veranschaulichung inhaltlicher Sachverhalte anwendet.

2. Schüler*innen einer 6. Klasse putzen den Stolperstein von Alice Kirchner und entdecken ihre Familiengeschichte
Schüler*innen der 6. Klasse der Grundschule am Königsgraben haben den Stolperstein von Alice Kirchner geputzt, die Lebensgeschichte von Frau Kirchner recherchiert und den Kontakt zu ihrer Tochter, Marianne Kirchner, gesucht. Am 11.09.2019 hat Marianne Kirchner die Klasse besucht und mit den Schüler*innen ihre Lebensgeschichte besprochen. Im Rahmen eines Gottesdienstes am Buß- und Bettag 2019 haben die Schüler*innen ihre Erfahrungen noch einmal in Form eines Anspiels präsentiert. Der folgende Auszug verdeutlicht ihre persönliche Anteilnahme und Betroffenheit:

Swanhild:
„Zu Anfang war da nur der Name auf dem Stolperstein, aber als wir herausgefunden haben, welches Leben dahinter steckt, war ich sehr erschüttert. Ich kann mir gar nicht vorstellen, meine Mutter in so jungen Jahren zu verlieren.“

Vanessa:
„Erinnern an Namen bedeutet Erinnern an Leben. Als wir uns mit Frau Kirchners Leben beschäftigt haben, habe ich Mitleid bekommen. Besonders, dass Marianne auf ihre Mutter gewartet hat, die ganzen Sommerferien lang und ständig hoffte, sie käme zurück, fand ich schlimm.“

Annabel:
„Ich frage mich, wie muss es wohl für Marianne Kirchner gewesen sein, als ihre Mutter ihr im Alter von 10 Jahren weggenommen wurde? Als sie später hörte, dass ihre Mutter gestorben ist? Welche Gefühle hatte und hat sie?“

Mia:
Wo wir gemeinsam am Stolperstein standen, habe ich die Lebensgeschichte von Frau Kirchner erst so richtig realisiert. Wir können uns nicht vorstellen, in so einer Welt wie damals zu leben. Für mich ist unbegreiflich, dass heutzutage jüdisches Leben wieder bedroht ist.“

 

Literatur
Boschki, Reinhold: Erinnerung/ Erinnerungslernen: WiReLex 2015
Büttner, Gerhard/ Dieterich, Veit-Jakobus/ Roose, Hanna: Einführung in den Religionsunterricht. Eine kompetenzorientierte Didaktik, Stuttgart 2015
Dam, Harmhan: Historisches Lernen, historische Bildung, in: WiReLex 2017
Dirk, Heidrun: Dis/ability History, kirchengeschichtsdidaktisch: WiReLex 2020
Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit in der EKBO. Grundlagen und Handlungsstrukturen, hrsg. von der EKBO, Berlin o.J.
Rahmenlehrplan für den Evangelischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 1 bis 10, hrsg. v. Friedhelm Kraft, Berlin 2018
Sajak, Clauß Peter/ von Eiff, Miriam Sophia: Biografisches Lernen, in: WiReLex 2017
Schwillus, Harald: Zeitzeugenbefragung, in: WiReLex 2015